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Überlegungen zum Radfahren: In Gedanken wegradeln

Radfahren als Epos. Nach jeder Ausfahrt dreht sich das Hirn weiter - eine Erkundung beim lesenden Nachdenken.

Kreative Ruhe nach dem Radfahren.
Kreative Ruhe nach dem Radfahren.
Auf dem Rad mit Ernest Hemingway.
Auf dem Rad mit Ernest Hemingway.
James Hibbard: „Die Kunst des Radfahrens“.
James Hibbard: „Die Kunst des Radfahrens“.

Ernest Hemingway macht sich südwestlich von Paris kundig über die Stellungen der Einheiten der US-Army. Noch liegt Nebel über den Feldern, noch besetzen die Nazis die Stadt. Bald aber beginnt die Schlacht um Paris. Hemingway ist als Journalist dabei. Und er schreibt in einer Reportage, dass er "die Gegend um Épernon, Rambouillet, Trappes und Versailles" gut kenne. Er sei dort mit dem Rad unterwegs. "Beim Radfahren lernen Sie eine Landschaft am besten kennen, weil Sie bergauf schwitzen, während es bergab von allein geht", berichtet er im September 1944.

Hemingways Satz drängt sich auf, wenn man nach einer langen Ausfahrt zu erzählen beginnt, wie die Strecke war, was einem von der Strecke in Erinnerung bleibt. Das Rad abgestellt. Ein kaltes Bier bestellt. Wenn die Bewegung endet, wird das Radfahren zur Erzählung. Legendäre Pässe. Ewige Ausfahrten. Harter Gegenwind. Endloses Rollen. Manchmal Defekte. Und eben Topografie, Geschichte, Menschen oder Kirchlein am Wegesrand. Die große Geschichte als mit eigener Kraft betriebenes Fortbewegungsmittel - ob im Stadtverkehr, auf endlosen Straßen oder über wilde Pässe - ist die ideale Vorlage für Epen.

Das hat der französische Philosoph Roland Barthes schon Mitte der 1950er-Jahre exemplarisch im Essay "Tour de France als Epos" in Bezug auf die sportlichen Helden formuliert. Ein Mythos sei das Ereignis, "realistisch und utopisch zugleich". So kann sich jeder fühlen, der weit oder hoch hinauffährt. Und weil im Pedalieren der Mensch eins wird mit der Maschine, taucht dann beim Sinnieren über die Beziehung zum Fahrrad der irische Schriftsteller Flann O'Brien mit seinem Roman "Der dritte Polizist" auf. "Sie würden sich über die hohe Anzahl von Leuten in dieser Gegend wundern, die halb Mensch und halb Fahrrad sind", heißt es darin. Später wird der britische Radjournalist William Fotheringham seiner fabelhaften Biografie über Eddy Merckx einen Titel geben, der wohl bei O'Brien seinen Ursprung hat: "Half Man, half Bike".

Freilich kann man einfach nur radeln, danach trachten, immer noch schneller von A nach B zu kommen. Dazu reicht das Studieren von Trainingsprogrammen. Wer bloß, so schnell es geht, von A nach B fährt, vergisst, dass es noch 24 weitere Buchstaben im Alphabet gibt. Aus ihnen wurden wunderbare Geschichten über das Radfahren als Kulturphänomen. Dabei gilt es den Unterschied zu machen zwischen uns normalen Radfahrern und jenen, die aus dem Radfahren einen Beruf gemacht haben. Zuletzt tat das der ehemalige Radprofi James Hibbard in dem Band "Die Kunst des Radfahrens". "Es gibt für mich einen massiven Unterschied zwischen professionellem Radsport und der Aktivität des Fahrradfahrens", sagte er in einem Interview. In Bezug auf die Faszination des Radfahrens bemüht er einen Vergleich mit dem Blick in den Himmel: "Es ist so, wie man auf die Sterne zeigt und sagt, es gibt da etwas Unerklärliches, das rationales Denken zu unterdrücken neigt."

Das Seltsame beim Nachdenken über das Fahrrad, über die eigenen Ausfahrten, besteht in der Ruhelosigkeit, die einen befällt, obwohl man sich nicht mehr bewegt. Diese Ruhelosigkeit lässt eigenartigerweise auch nach dem Wegstellen des Rades nicht nach. Die Füße stehen am Boden. Das Hirn jedoch tritt an zum Ausreißversuch. Im Gegensatz zu einer Ausfahrt, wo es eine Richtung gibt, ziehen die Gedanken im Hirn dann immer enge Schleifen. Das Denken passiert in Serpentinen, in Kehren, in einer "Tornante" nach der anderen, wie das schöne italienische Wort für Haarnadelkurve lautet. Das sind jene Kurven, in denen bergab jeder in die Bremsen greifen muss. Es sind aber auch jene Windungen, die harte Anstiege erträglich machen.


Das Unmögliche wird in diesen Kurven denkbar und machbar. Der Asphalt schmiegt sich in alpine Almlandschaften, aus der Vogelperspektive sieht das aus wie Gehirnwindungen. Weil die Kehren durch das Steile oft nummeriert sind, zählt man sich Kurve für Kurve den Berg hinauf, der Reihe nach. So arbeitet kein Gehirn. Das Hirn arbeitet wie ein gut geschmiertes Ritzelpaket. Es springt, damit macht man es sich - je nach Herausforderung - leichter und schwerer. Bloß geht beim Schalten im Hirn die Macht über das Geschehen verloren, das auf der Straße selbstbestimmt bleibt. Im Hirn schmieren die Gedanken ineinander. Auf dem Fahrrad schalte ich so wenig wie möglich, denkt sich, wer Rad fährt. Da wird dann der Gang gesucht für den idealen Rhythmus, Atmen und Bewegung geraten in eine Gleichmäßigkeit, in der dann die Gedanken ungehorsam fliegen.

Auf dem Rad gibt es zwei Zustände, bei denen eine denkende und damit auch eine über jedes Tun hinausdenkende Stimme ihre Wirkung am stärksten entfaltet. Die Stimme wird laut, wenn es gemächlich, aber weit dahingeht, wenn man sich im Flachen oder im Hügeligen Kilometer um Kilometer leer fährt. Die Stimme beginnt erstaunlicherweise schier zu schreien, wenn die Kräfte ins Wanken kommen, wenn man sich an der Grenze zum Aufgeben, zum Scheitern bewegt. Doch weil einen das Fahrrad in den Moment zwingt, weil es einen bei jeder Fahrt unbedingte Aufmerksamkeit abfordert, verhallt die Stimme oft, bevor sie zu Ende erzählen kann. Nächste Ausfahrt: Gedankenleere, egal ob in der Marter steiler Anstiege oder in der Magie der physischen Entäußerung im Flachen.

Freilich gibt es dann auch die Versuche, dieses Radfahren in Romanen zum Zentrum des Geschehens zu machen. Wenige sind so geglückt wie "Die unsichtbare Meile" des Neuseeländers David Coventry und "Die Rebellion der Alfonsina Strada" von Simona Baldelli, die Geschichte einer mutigen Frau, die der Männerwelt beim Giro d'Italia trotzte. Immer lohnt es sich, nach Ausfahrten in den Kolumnen von Wilfried De Jong - erschienen unter dem Titel "Ein Mann und sein Rad" - zu schmökern. Darin fühlt man sich niemals allein, denn der Niederländer De Jong erlebt die Straße, wie sie jeder erleben kann.

"Sammle dich, brems' dich ein. Nur atmen", ermahnt sich dann der Radfahrer im großen Feld aus Büchern und Buchstaben. Atmen. Treten. Atmen. Denken. Die Landschaft weitet sich. Und wenn man zurückkehrt aus dem Nebel einer Anstrengung, tauchen in der Erinnerung und beim Erzählen wieder Zeilen von Hemingway auf: "Auf diese Weise haben Sie die Gegend im Kopf, wie sie wirklich ist, während Ihnen im Auto nur hohe Berge Eindruck machen. Keiner Landschaft entsinnen Sie sich so genau wie einer Gegend, die Sie mit dem Fahrrad erkämpft haben", schrieb er in seiner Reportage aus Frankreich.

Unser Autor radelt viel und denkt darüber nach, was sich auch in seinem Buch "Das Fahrrad" (Residenz-Verlag) nachlesen lässt.

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