SN.AT / Leben / Karriere

"Hierarchie stört die Arbeit"

Menschlichkeit vor Bürokratie. Das Konstrukt "Führungskraft" sei nicht mehr zeitgemäß, ist eine Organisationsentwicklerin überzeugt.

„Es braucht nicht einen Hero, der alles führen muss.“
„Es braucht nicht einen Hero, der alles führen muss.“

Die Zahlen könnten weiter kaum auseinanderklaffen: 97 Prozent der Menschen in Leitungsfunktion sind überzeugt davon, dass sie ein natürliches Talent zur Führung haben. Nur 18 Prozent ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehen das genauso. So weit die Daten des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Gallup.

Warum sollen erwachsene Menschen jemanden brauchen, der sie in ihrer Arbeit leitet?

Für Elisabeth Sechser, eine Wiener Organisationsentwicklerin, ist agile, dezentrale Führung nicht an die Funktion der Führungskraft gebunden, sondern etwas, das zwischen Menschen entsteht - und zu dem grundsätzlich jeder in der Lage ist: "Gesunden Erwachsenen gelingt es außerhalb ihres Arbeitsplatzes, ihr Leben zu meistern, Partnerschaften zu gestalten. Warum sollen sie in Organisationen plötzlich jemanden brauchen, der sie in ihrem Tun anleitet?"

Seit 18 Jahren setzt sich Elisabeth Sechser damit auseinander, was Arbeitsorte brauchen, damit Arbeit gut gelingt und sie möglichst nicht durch Machtgefälle gestört wird. In agilen Strukturen organisieren sich Teams selbst, erledigen die Aufgaben klassischer Führungskräfte gemeinsam. Hier gibt es keinen Chef, der über allen Angestellten thront und Aufgaben an Bereichsleitende verteilt, die diese wiederum an ihnen unterstellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter delegieren.

Im Wissenszeitalter ist eine Führungskraft nicht mehr passend

Dabei hatte diese Art der Führung lange Zeit ihre Berechtigung, so Sechser: "Im Industriezeitalter gab es die funktionale Teilung nach Arbeitsbereichen, Menschen hatten wenig Zugang zu Bildung. Aber die Marktbedingungen sind heute ganz andere. Wir sind im Wissenszeitalter angelangt. Arbeitsorte, wie wir sie aus dem Industriezeitalter kennen, sind nicht mehr passend, entsprechen nicht dem humanen Menschenbild. Und doch ist nach wie vor die Überzeugung da, dass jeder eine Führungskraft bräuchte." Dadurch, dass Menschen die Fähigkeit zur Eigenverantwortung, zur Führung im Arbeitsleben plötzlich abgesprochen bekommen, gehen nicht nur Ressourcen verloren - es entstehen zudem Unzufriedenheit und Frustration: 75 Prozent der Beschäftigten verlassen ein Unternehmen nicht wegen der Arbeit selbst, sondern aufgrund der oder des Vorgesetzten, geht aus einer Gallup-Langzeitbetrachtung hervor.

Wie kann man die Vorstellung, man brauche Führungskräfte, nun infrage stellen?

"Organisationen sind Sozialisationsorte", erklärt Sechser. "Wenn sie so angelegt sind, dass sie Eigenständigkeit nicht fördern, kritische Stimmen nicht ermöglichen, dann verhindern wir, dass Verantwortung geteilt und Potenzial gehoben wird - es ist dann zwar da, wird aber nicht genutzt."

"Verantwortung teilen heißt auch Potenziale heben."
Elisabeth Sechser
Organisationsentwicklerin

Es brauche die Erkenntnis, dass unternehmerische Teamarbeit eine erfolgreichere Form der Unternehmensführung ist und die Wirkkraft der Organisation erhöht, so Sechser. Gerade in einer dynamischen, komplexen Welt sei es wichtig, Talente zu nutzen und Zusammenarbeit in den Fokus zu rücken. "Organisationen leben durch und mit Diversität auf und stechen durch überdurchschnittliche Rentabilität und Krisenfestigkeit hervor."

Beta-Kodex orientiert sich am Markt und am Menschen

Sechsers Ansätze gehen auf den Beta-Kodex aus den 1990er-Jahren zurück. Anhand von Fallstudien untersuchten Vertreter der Industrie und der Weltbank damals, was Unternehmen ausmacht, die durch eine besondere wirtschaftliche Stabilität und hohe Wertschöpfung herausstechen. Rasch erkannte man, dass ihr Erfolg an der Art der Budgetierung lag - oder besser daran, dass dort gar keine Jahresplanung mehr stattfand. Dieses Prinzip wurde auf die Steuerung und Führung von Unternehmen umgelegt. "Beta-Kodex ist kein Menschenführungskonzept, sondern ein Ansatz der gemeinsamen Führung in dezentralen, vernetzten Strukturen", fasst Sechser zusammen. "Es braucht nicht einen Hero, der alles führen muss, sondern unternehmerische Teams, die von der Organisation so unterstützt werden, dass sie das auch leisten können."

Die zwölf Grundsätze des Beta-Kodex sind sowohl auf einen komplexen Markt ausgerichtet als auch an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Ob Bank oder Kindergarten: Es geht um die Gleichrangigkeit in den Strukturen.

Nicht Führungskräfte sollen Menschen führen, sondern Teams das Business

Der Vorteil: "Selbstorganisierte Teams können viel schneller auf Marktveränderungen reagieren, als wenn erst alles von Vorgesetzten autorisiert werden oder man auf den nächsten Managementausschuss warten müsste. Stattdessen sollten Organisationen eine Umgebung schaffen, in der Teams Verantwortung tragen und autonom agieren können. Das heißt: Nicht Führungskräfte sollen Menschen führen, sondern Teams das Business."

Hierarchie sei durchaus essenziell, wenn es darum geht, rechtliche und gesetzliche Rahmen zu schaffen oder für die Einhaltung von Richtlinien zu sorgen. Die Geschäftsführung, Betriebsräte, Datenschutzbeauftragte und die Buchhaltung seien gute Beispiele dafür. "Aber wir müssen mit der Menschenführerei aufhören", ist Sechser überzeugt. "Unternehmen sollten nicht an den Menschen arbeiten, sondern mit den Menschen am System arbeiten. Denn Produkte und Services entstehen in Teams, die zusammenarbeiten. Bei dieser eigentlichen Arbeit stört Hierarchie."